Ein Mal im Monat überkommt Pawel Fedorowitsch stille Verzweiflung: der Schreibtisch läuft über. Sicher, über dem Tisch hängen Häkchen, für Postquittungen, für Briefe, die beantwortet werden
müssen und Zettelchen mit „noch zu erledigen“ - aber helfen tun sie nicht, die Häkchen. Sie sind gleichfalls übervoll und gleichen zeitweise den Wedeln, mit denen im Süden schafskäsige
Griechen Fliegen vom Obst verjagen.
Das Porzellansouvenir, das auf dem Tisch liegt, trägt die Spuren von wenigstens sechs Schichten Graphit, die Papierfächer sind derart vollgestopft, dass man keine einzige neue Postkarte mehr
hineinschieben könnte und zerknitterte und abgegriffene Ecken und Eselsohren lugen hervor und scheinen sich von selbst herauszudrücken; aus dem Glas für Stifte ragen diesem höchst
wesensfremde Dinge: ein Stöckchen zum Stopfen der Papyrossi, lange Scheren, ein Stück Baguette, Reste eines im letzten Jahr entzweigegangenen Rahmens und ein leeres Vanilleröhrchen...
furchtbar.
Völlig vergeblich hatte Pawel Fedorowitsch unter Herzschmerzen seinen Schreibtisch vor langem aufgeräumt: der luzerner Löwe, der bronzene Baron, auf einer Auktion erstanden, ein japanisches
Bonsai-Bäumchen sowie weitere reizende Gegenstände wurden entfernt, welche einzig die Aufmerksamkeit ablenkten und den Tisch überluden. Allein auch dieses half nicht: wie von selbst geschieht es,
dass alle Gegenstände, zur Benutzung auf dem Tisch abgelegt, dort auch verbleiben.
Insonderheit Bücher. Ihr Verhalten entspricht zweifelsfrei dem extrem träger Tiere. Das Pawlowsche Deutsche Wörterbuch zum Beispiel liegt den dritten Monat hier und bewegt sich, wie ein im
Schlamm dösendes Nilpferd, nur äußerst selten von der linken zur rechten Seite.
Die Bibel übersiedelt zeitweise zum nebenstehenden Sessel, aber erscheint ein Gast und setzt sich - wo sollte sie abbleiben? Der Tisch steht in der Nähe...
Noch größeren Kummer verursachen die Lexika. Ihr Erscheinen ist weitaus häufiger, als ihr Verschwinden und erfolgt stets herdenweise, so dass der arme, wissbegierige Pawel Fedorowitsch abends
manches Mal nicht an sein Tintenfass gelangen kann.
Am aufdinglichsten und frechsten aber sind die Zeitungen. Werden sie vom Postboten gebracht, bieten sie einen anständigen und tadellosen Eindruck - eng, straff, um die Taille fest, geschnürt mit
Banderolen, sie passten in die Manteltasche, aber einmal geöffnet und aufgeblättert, herrscht auf dem Tisch das Chaos. Umgeblätterte Seiten knittern und wollen sich nicht zurückfalzen lassen,
ausgeschnittene Artikel kriechen unter den Händen fort und vermischen sich mit älteren... Selbst der Papierkorb bietet keine Abhilfe: mit zwei, drei zerknüllten Zeitungen bis oben hin
zugestopft, wirft er alles auf den Boden, was ihm auf den Kopf gelegt wird. Furchtbar, furchtbar!
In den Schubladen sieht es nicht besser aus. Pawel Fedorowitsch ist
vielseitig interessiert und hängt zudem stark an seiner Vergangenheit, wie fast alle alleinlebenden Menschen. Sollten gewisse Briefe und diverse merkwürdige Nichtigkeiten (italienische
Münzen, ein gymnasiales Wappen, ein Stück einer Wachskerze usw.) aus seinem Schreibtisch abhanden kommen, würde er sich auf dieser Weltkugel sehr unbehaglich fühlen und, zu einem
beträchtlichen Teil, seine Empfindungen für die Vergangenheit einbüßen. Selbstverständlich ist das lächerlich und absurd, - aber was soll man tun?
Tatsächlich ist Pawel Fedorowitsch unkompliziert wie ein Nagel: morgens Kaffee und Brötchen, die Morgenzeitungen, Arbeit, Mittagessen, Arbeit, die Abendzeitungen, Tee, Arbeit und schlafen wie tot
bis zum nächsten Morgen.Seine Zukunft schien ihm vage vorgezeichnet, wenn er das Bindfädchen einer Wurst betrachtete, die bereits bis zum Zipfel angeschnitten wurde.
In den Schubladen befinden sich selbstverständlich nicht nur überflüssige Dinge, sondern auch unerlässlich notwendige, wie beispielsweise Bücher- und Antiquariatskataloge mit sorgfältigen,
wohldurchdachten Kommentaren, welche Werke in ihrer Anschaffung Priorität haben und welche noch warten können. Leider sammeln sich mehr Kataloge an, als tatsächlich benötigt: Geld zum Bücherkauf
ist nämlich nicht vorhanden, und wenn doch, gelegentlich oder zufällig, stößt man vorher stets auf irgendwelche löchrigen Galoschen. Das Irdische besiegt das Himmlische, die Bücher bleiben
vorgemerkt, die Kataloge fahren fort, in den Schubladen zu gilben. Zwischenzeitlich erscheinen neue Kataloge, welche Pawel Fedorowitsch wiederum mit Anmerkungen versieht, und dies seit vielen
Jahren.
In einem dieser Anfälle von Verzweiflung, der Schreibtisch innen und außen überladen, als Pawel Fedorowitsch, angesichts der bösartigen und albernen Aussichtslosigkeit, mit einem verfinsterten
Gesichtsausdruck Schublade für Schublade auf der Suche nach Briefbogen und Linienblatt geräuschvoll etwa zwanzig Mal heraus- und wieder hineingeschoben hatte - in einem dieser Anfälle von
Verzweiflung erhebt sich Pawel Fedorowitsch also, schreitet durchs Zimmer, löst seinen Kragen und spricht „Uff!“. Es erfolgt ein Schütteln des Kopfes und er setzt sich wieder an den Tisch,
erfüllt von der eisernen Entschlossenheit, ihn bis zum allerletzten Löschblatt durchzusehen und sich mitleidlos allen „Krams“ zu entledigen.
Gälte es, eine „humoristische Erzählung“ zu schreiben, wäre alles weitere nach 2 Mustern durchzuspielen.
Klischee Nr.1: in einer Aufwallung von Begeisterung schmeißt Pawel Fedorowitsch allen „Kram“ weg und befiehlt sogar der Putzfrau, der Verführung zu entgehen, alles im Müll zu entsorgen. In der
Nacht allerdings, ergriffen von einer drolligen Reue, schleicht er, nur im Hemd bekleidet, mit einer Funzel zum Mülleimer, ihn zu durchwühlen und seine läppischen Andenken aus einem Berg
Kartoffel- und Eierschalen herauszuziehen.
Hinzufügen könnte man noch einen Hausmeister, der ihn für einen Dieb hält, packt und zum Revier schleppt o.ä.
Klischee Nr. 2: Pawel Fedorowitsch schmeißt seinen Krempel nicht weg. In diesem Fall erfindet man einen äußerst erheiternden - „nichtendenwollendes Gelächter“ - Kampf zwischen seinem
gefassten Beschluss und den Erinnerungen, die verbunden sind mit diesem alten Schlüssel, dem Brocken Siegellack, dem Brief der lebenslustigen Witwe, welche seine Jugend verschönte, sowie weiterer
Spreu aus den vollgestopften Schubladen. Schließen könnte man folgendermaßen: frühmorgens fegt die Putzfrau den kalten Pawel Fedorowitsch zusammen mit dem ihn, wie die Asche Pompejis, bedeckenden
Kram, den er auf dem Teppich ausgebreitet hatte, hinaus.
Da jedoch die Erzählung nicht-humoristisch ist, sehen wir uns gezwungen, alle diese wunderhübschen Details zu opfern und weiter am unansehnlichen Gewebe der Fakten zu sticken.
In einer Ecke einer der unteren Schubladen, unter einem Haufen Schreibpapier und billigen Schnitten, gerät Pawel Fedorowitsch ein unerwartetes Fundstück in die Hände: ein dickes
Schreibheft.
Ohne Etikett, statt dessen waren durch den gitterförmig eingeschnittenen Kaliko-Einband die auf der dahinterliegenden Seite sorgfältig mit Tusche gezeichneten Buchstaben der Aufschrift
„Strafarbeiten“ zu lesen.
Pawel Fedorowitsch muss lächeln und nimmt das Heft neugierig zur Hand. Wie kam es zu ihm und was befindet sich darin? Er öffnet es und erkennt sofort seine eigene Handschrift aus
Gymnasialzeiten, noch nicht reif und gefestigt, aber schon mit allen Eigenheiten die Handschrift des Erwachsenen, der dies Heft in seinen Händen hält.
Auf der ersten, wahllos aufgeschlagenen Seite, steht geschrieben:
„Duum, priusquam, antequam - im Indikativ, wenn der Nebensatz auf die
Frage antwortet: wann, zu welcher Zeit“.
Pawel Fedorowitsch lehnt sich erstaunt im Sessel zurück und versucht, sich zu erinnern. Was könnte das bedeuten?... Aber in seiner Erinnerung tauchen einzig die eleganten grauen Hosen des jungen
Lateinlehrers aus dem Philologischen Institut auf sowie die Pose, in der er sein bereits verlorenes Opfer befragte und dabei seinen Fuß mit ausgesuchter Grazie auf die Bank setzte.
Die nächste Seite gibt noch mehr Rätsel auf, obgleich die Handschrift wiederum seine ist - Pawel Fedorowitschs.
"Grenzwert ist der konstante Wert, zu welchem die Variable strebt und ihn beliebig nahe erreicht, wobei die Differenz der beiden immer kleiner als jede noch so kleine Größe bleibt.
Infinitesimalzahl ist die Variable, die in der Ordnung der reellen Zahlen größer ist als Null, aber kleiner als jede noch so kleine positive reelle Zahl".
Pawel Fedorowitsch stellt sich eine unendliche Reihe von Fliegen vor, die sich von rechts nach links ins Unendliche verkleinern und gegen Null streben. Aber da der Unterschied zwischen zwei
benachbarten Fliegen stets „kleiner als eine noch so kleine Größe“ blieb, schienen sich die Fliegen gar nicht zu verkleinern und waren alle gleich groß.
Er spuckt aus und blättert verärgert einige Seiten weiter.
„ Am Freitag Wiederholung zu Gottfried von Bouillon“.
In diesem Satz, der an eine Scharade in einer wenig bekannten Sprache
erinnert, zeitigt allein das Wort „Bouillon“ eine konkrete Vorstellung, und
zwar gastronomischer Natur.
Der Buchstabe „G“ liegt grade auf dem Schreibtisch. Pawel Fedorowitsch schlägt den 17.Halbband der Enzyklopädie auf und liest vor: „Gottfried von Bouillon, Herzog Nieder-Lothringens, geb.
gegen 1060, ältester Sohn des Grafen Eustach II von Bouillon und Ida, der Schwester Gottfried IV (Der Bucklige), Herzog Nieder-Lothringens, dem er in der Herrschaft folgte“.
In diesem Stil weiter, eineinhalb Spalten in Petit und Unterschrift - J. Schtschepkin.
Mutlos seufzt Pawel Fedorowitsch auf und langt doch, in unwillkürlicher
Neugier, zum letzten Halbband, in dem sich die Fotografien aller Lexikonmitarbeiter befinden. J. Schtschepkin war der letzte, mit vollständigem Namen: Prof. Jewgeni Nikolaewitsch Schtschepkin,
rundes und gutherziges Gesicht, auf der Stirn eine sich entfaltende Glatze, mit einem hohen Stehkragen, wie ihn bereits niemand mehr trägt außer Pastoren und gewissen Professoren.
Hinter Gottfried von Boillon huscht der Blick über Seiten von noch größerer Unverständlichkeit. Die Buchstaben sind merkwürdiger Weise lateinisch, besonders oft wiederholen sich x, y und z.
Einige stehen in runden Klammern, andere, gleichsam im Korsett, in geschweiften, bei vielen Buchstaben stehen oben rechts winzige Ziffern. Anderswo liegen und stehen Buchstaben und Zahlen
nebeneinander, in zwei Etagen, mit einem Strich zwischen ihnen. Wieder anderswo, wie große und kleine Kamele, ragen Wurzelzeichen hervor.
„Algebra...“ besinnt sich Pawel Fedorowitsch gramvoll, „Algebra...“.
Mit einer ungewöhnlichen Intensität überkommt ihn das Gefühl kalten Horrors und hoffnungsloser Verlorenheit aus den Klassenarbeiten, wenn bis zum Klingelzeichen nur noch eine halbe Minute
blieb. Die Aufgaben teils abgeschrieben, teils gelöst, wenn der Mathelehrer, dünn wie ein Hering, vor dem Pult stand und das Heft mit zwei Fingern an sich zog: „So, Schluss jetzt, erholen Sie
sich...“.
Die Bedeutung der merkwürdigen Zeichen bleibt allerdings im Dunkeln. Er vermag nicht einmal zu glauben, dass diese Linien und Schnörkel von seinen eigenen Fingern gezogen wurden.
Erneute Ausgrabungen im Heft führen zu der Entdeckung ganzer Lagerstätten griechischer Sätze - mit Locken und Zeichen für Betonung und Aspiration, geheimnisvoll wie eine Sternenkarte. Unten
stehen Anmerkungen: „Am Donnerstag Extemporale! Passive Verben im Ariost mit stummer und Vokalendung wiederholen...... (sollen sie doch krepieren!)“.
Die Worte in Klammern rufen ein mitleidendes Lächeln hervor, der Rest ein - Ogottogott. Vergeblich wiederholt Pawel Fedorowitsch ruhig und konzentriert „Aoristus I passive Verben mit stummer
und Vokalendung.....“.
Nicht nur, dass sein Gedächtnis sich weigert, etwas zu verraten, es führt ihn auch noch vom Wege ab und schiebt ihm einen lange vergessenen Abzählreim zu:
„Eins zwei Schulkatheder
Zucker Butter Hühnerfeder
As Bas Tribabas
ekelhafter saurer Kwass“
Sofort blitzt auch ein bekanntes Antlitz wieder auf. Klein, mit roten, zerzausten Haaren steht der Griechischlehrer mit dem Rücken zum Fenster und wendet sich mit gleichgültiger Stimme zur
Klasse: „Aber meine Herren, bitte nicht alles wörtlich voneinander abschreiben. Bei allen der gleiche Fehler - 6“.
„Gott gebe ihm Gesundheit!“ seufzt Pawel Fedorowitsch und wird nachdenklich, “...auch unter denen gibt es Menschen...“.
Schließlich, ganz am Ende des Heftes, findet er zu seiner innigen Freude doch noch einen Abschnitt, der, in einer gewissen Weise, irgendwie nachzuvollziehen ist. Ein Entwurf zu der Hausaufgabe
„Der Held in der Antike“, aus dem glasklar hervorgeht, dass dem „Helden etwas gelingt, zu dem seine Umgebung gänzlich unfähig ist - das ist der Hauptgrund für die Anerkennung seines Heroismus
und des Erstaunens über ihn“.
Eine Stelle führt Pawel Fedorowitsch sogar für einen Moment zu Begeisterung über den kühnen Flug seiner gymnasialen Gedanken: „Falls während einer Feuersbrunst irgendein Mensch aus der Menge
sich in die Flammen wirft und ein fremdes Leben rettet, nennen wir dies Heroismus, falls allerdings ein Feuerwehrmann das Gleiche tut, schätzen wir das wesentlich geringer ein. Womit kann man
dies erklären? Damit, dass, wenn es einen Beruf gibt, in welchem Menschen geradezu verpflichtet sind, stets Helden zu sein, wird sich, wegen der wiederholten Heldentaten, niemand mehr
verwundern“.
Der ganze Entwurf war übrigens mit einer fetten, schwarzen Linie durchgestrichen, an der Seite steht ein zagendes Fragezeichen mit dem eigenhändigen Vermerk: „Nicht zum Thema.
Esel“.
Bedächtig schlägt Pawel Fedorowitsch das Heft zu, lehnt sich im Sessel
zurück und schließt die Augen. Äüßerst bedauerlich das alles.
Ihm kommen der halbjährliche, erniedrigende Handel mit dem Lateinlehrer in den Sinn, im Korridor, nach dem Unterricht, der die Verwandlung einer fünf- plus in eine vier-minus im Zeugnis
gewährleisten sollte, er denkt an das schriftliche Zusammenzählen der Noten (welcher Durchschnitt?), an mündliche Prüfungen („zur Verbesserung“) am Ende des Quartales, an die Spickzettel auf
Löschpapier für die unangekündigten schriftlichen Arbeiten in Griechisch - den ganzen bedrückenden gymnasialen Mief aus Schuld und kleinen Betrügereien und niemals nachlassender Anspannung
und Furcht.
Besonders lebhaft steigt vor ihm die entsetzliche Zeit der Examensprüfungen auf - die Tage der Vorbereitung, Inhaltsangaben, Spickzettel, Stunden des Wartens, weil der Familienname die
Reihenfolge bestimmt, die furchtbaren Minuten, wie vor dem Schafott, die Minuten des Grübelns, wenn du deinen Umschlag mit Fragen bekommen hast...
Sogar jetzt noch, bei der bloßen Erinnerung, spürt er Erleichterung, als in ihm der Gedanke aufblitzt: gottseidank braucht er in seinem Leben kein einziges Examen
mehr abzulegen.
Er beugt sich über das Heft und seufzt: war das heute vielleicht keine Prüfung? Und mit Fanfaren durchgefallen! Als ob man ihn vor eine Tafel geführt hätte, übersät mit assyrischer Keilschrift -
und er bekäme keinen Ton heraus!
Seine Enttäuschung wächst. „So viele Jahre, so viele Jahre...“
Aber, könnte es nicht sein, dass nur er alles vergessen hat, dass andere, vielleicht, mit besserem Gedächtnis, die leichter gelernt haben, noch alles wissen?
Er steht auf, geht zur Wand und klopft.
- „Iwan Iwanowitsch, sind Sie zu Hause?“
- „Hallo!?“ tönt es dahinter.
- „Darf ich Sie belästigen?“
Iwan Iwanowitsch, der Vermieter, arbeitet in einer Bank, kann jede Frage innerhalb von 5 Minuten beantworten und betrachtet sich als, nach Schopenhauer, zweitklügsten Menschen der Welt.
- „Guten Abend. Worum gehts denn?“
- „Waren Sie auf dem Gymnasium ein guter Schüler?“
- „Silberne Medaille“.
- „Oho! Setzen Sie sich doch bitte kurz...“ Pawel Fedorowitsch nimmt
die Bibel vom Sessel und legt sie auf den Schreibtisch, „würden Sie
mir bitte einige Fragen beantworten, ich bitte nur, mich nicht zu unter-
brechen oder sich zu wundern“.
- „Aber mit Vergnügen!“ etwas irritiert betrachtet Iwan Iwanowitsch
seinen Mieter, erinnert sich dann aber daran, vorgestern die Monats-
miete im Voraus erhalten zu haben und beruhigt sich.
- „Ihr Gedächtnis ist ausgezeichnet?“
- „Nec plus ultra“.
- „Wunderbar, dann sagen Sie bitte...“ heimlich schaut Pawel Fedo-
rowitsch ins Heft, “... wo befindet sich der Schwerpunkt eines
Konus?“
Abrupt wendet Iwan Iwanowitsch sein Gesicht dem Mieter zu, kaut auf den Lippen und fragt verwundert: “ Was soll das denn, Pawel Fedorowitsch?“
- Nichts, nichts. Mir gehts ausgezeichnet. Der Schwerpunkt eines
Konus, wo befindet er sich?“
- „Keine Ahnung...“
- „Gut...“ unter dem Tisch blättert Pawel Fedorowitsch einige Seiten
weiter, “...Wer war Luka Ghidiata?“
- „Luka Ghidiata?“
- „Jawohl, Luka Ghidiata. Oder Feodossi Petscherski? Illarion?“
- „Hm, das sind irgendwelche aus der Dichtung...“
- „Vollkommen richtig. ‘Irgendwelche aus der Dichtung’. So. Was
können Sie sagen zum Perfekt und Plusquamperfekt der
Verben mit Konsonantenendung und betontem Wurzellaut?“
„Weiß ich nicht“ antwortet, mit einem fragenden Lächeln, der Vermieter, dunkel
ahnend, worauf das hinauslaufen sollte.
- „Ach, das wis-sen Sie nicht?“ Pawel Fedorowitsch steigert sich in
seine Rolle hinein und hebt die Stimme: „Silberne Medaille. Na
ausgezeichnet. Dann stellen Sie bitte die Abhängigkeit zwischen Zeit
und Geschwindigkeit bei verschiedenen Bewegungen grafisch dar.“
- „Entschuldigen Sie bitte, ich bekomme...Kopfschmerzen. Erlauben
Sie, auszutreten!“ Iwan Iwanowitsch springt auf und hebt schülerhaft
die Hand.
- „Gehen möchten Sie? Wäre es Ihnen denn nicht eine Herzensange-
legenheit, geehrter Herr, eine winzige Rohübersetzung ins Grie-
chische vorzunehmen, und zwar von dem Satz `Homer nennt Thersi-
tes den Hässlichsten und Frechsten der Griechen`. Das Wörterbuch
steht im Regal, eine halbe Stunde Zeit. Bitteschön.“
- „Lassen Sie mich bitte gehen!“ heult Iwan Iwanowitsch, kann sich
aber nicht zurückhalten und fängt an zu glucksen, wie ein Truthahn.
Mit einem etwas schiefen Lächeln schiebt ihm Pawel Fedorowitsch das
Tagebuch hinüber: „6 - setzen. Lustig, nicht wahr? Hier, habe ich ent-
deckt, lesen und staunen Sie.“
Höflich durchblättert Iwan Iwanowitsch das Heft und zuckt mit den
Schultern: „Ach so....worüber wundern Sie sich? Sind doch alles be-
kannte Sachen“.
- „Bekannt schon, aber nicht sehr. Sie konnten sich an kein Jota mehr
erinnern“.
- „Warum sollte ich denn auch?“
- „Und warum haben die uns das jahrelang eingetrichtert?“
- „Ach, Unsinn. Da haben Sie aber ein Thema gefunden“.
Ein wenig herablassend betrachtet Iwan Iwanowitsch seinen Mieter und kneift die Augen zusammen: „Die Masern kriegen auch alle - und dies ist eben genauso. Außerdem wichtig für die allgemeine
Entwicklung“.
- ‘Weit hast du dich entwickelt!’ denkt Pawel Fedorowitsch, „8 Jahre
Masern? Glückwunsch... Aber vielleicht sollten wir Ihren Bruder
rufen?...könnte ja sein, dass er sich besser erinnert...?“
Ablehnend schüttelt Iwan Iwanowitsch den Kopf: „Keineswegs. Rezepte
kann er im Genitiv schreiben, wie’s sich gehört, ist ja auch sein
Beruf. Aber was den Rest angeht...da wird er, wie wir beide, passen
müssen“.
- „Hmm“.
- “Ach, lassen Sie das doch einfach, kommen Sie lieber mit zu mir, Tee
trinken, Gebäck ist auch da, na?“
Iwan Iwanowitsch schaut leicht belustigt auf seinen bedrückten und unwirschen Mieter, schwebt leichtfüßig durchs Zimmer und schließt sacht die Tür hinter sich.
Das Heft einfach loszuwerden, wäre kein Problem. Die Scheite glühen, über der Holzkohle flattern graue Ascheflocken. Es scheint, als würde selbst ein Eiszapfen brennen, schmisse man ihn hinein.
Aber Pawel Fedorowitsch zögert...
Jahr um Jahr hatte es einen tapferen, männlichen Kampf gegolten mit dem süßen, morgendlichen Schlaf, der wie Kleister die Lider verklebte, jahrelang musste er, sich verbrühend, kochend heißen Tee
schlucken, mit einem Auge die über Nacht im Kopf verwesten „Söhne Kalitas“ durchgehen oder die „Ehe mit Sophia Paläolog und ihre Auswirkungen“, während das andere, mit aussetzendem Herzschlag,
dem Minutenzeiger folgte.
Wie oft hatte er schwermütig den angebissenen Bagel weggeworfen und
war, wie ein Pferd im Derby, ins Gymnasium gerannt, vor Kälte zitternd, den klappernden Ranzen auf dem Rücken spürend - und in ihm die nicht gelöste Hausaufgabe, die nicht beendete Übersetzung
und mehr dieser Art - quälend, wie ein gefälschter Wechsel, der nicht heute oder morgen, aber irgendwann bestimmt präsentiert wird. Und dies hier war alles, was davon blieb... er rollt das
Heft zusammen.
Aber früher noch, als er ganz klein war?...Als er mit dem langen Uniformmantel (auf „Zuwachs“ gekauft) die Straße kehren konnte und ihn in dicken Falten hochkrempeln musste... wie viele es wohl
in ganz Russland gab, die, so wie er, durch die Straßen rannten, klein, mit kurz geschorenem, runden Kopf, vollgestopft mit Adverbialprinzipien, erschlagenen Philistern, Suffixen, Präfixen, der
vierten Deklination nach „us“ und weiß der Teufel mit was noch... und das wichtigste, die Hauptsache, nie das Schulgebet verpassen!
„Gedankt sei Dir, Herr...“ Und wie weiter? Angestrengt schaut Pawel Fedorowitsch an die Decke, aber außer dem Ende des Gebets fällt ihm nichts weiter ein: “...gib uns Kraft und Stärke, den
Unterricht weiterzuführen...“.
Automatisch kommt ihm die Variation dieses Satzes in den Sinn, die damals nahezu alle von ihnen mit ungeheurer Hartnäckigkeit und Intensität halbflüsternd für sich wiederholten: “...den
Unterricht zu beenden...“
Hübsche Variante!
„Für die allgemeine Entwicklung“. Leck. Tausend Jahre vergangen, und gute Schulen zu schaffen, war keine Zeit. Neunzig von hundert Erwachsenen sind nicht in der Lage, einen klaren und
verständlichen Brief zu schreiben, reden und schreiben wie ein stotternder Papagei, können eine Roggen- nicht von einer Weizenähre unterscheiden...
Langsam kommt Pawel Fedorowitsch wieder zu sich. Alles so offensichtlich, alles so alt wie die Welt und nicht, zumindest was ihn betrifft, zu reparieren.
Die Scheite im Ofen sind fast aufgebrannt - jetzt sollte er sich beeilen.
Er hockt sich hin, zerreißt das Arbeitsheft entlang des Buchrückens, schmeißt beide Hälften in den Ofen und pustet in die zerfledderten Blätter. Ein fröhliches Feuerchen flackert auf, fegt vor
seinen Augen Wurzeln und griechische Vokabeln zusammen und läßt den „Helden der Antike“ noch einmal vorbeihuschen, bevor sich eine helle, breite Flamme über das ganze Heft ergießt.
Pawel Fedorowitsch steht auf, schlägt zur Sicherheit noch einmal mit dem Schürhaken auf das wirbelnde, schwarze Bündel, schließt die Tür hinter sich, wäscht sich die Hände und geht Tee trinken.
Anmerkungen
Textgrundlage war der Band „Улыбки и Гримасы“, Verlag Локид,
Moskau 2000.
Die Erzählung erschien erstmals 1915 in der Nr.18 der „Sonne Rußlands“,
muss aber, da Tschorny zur Armee eingezogen war, vor dem Beginn des
1. Weltkrieges entstanden sein.
Die bitteren Betrachtungen Tschornys können durchaus autobiographische
Hintergründe haben, er selbst musste das Gymnasium aufgrund einer nicht
bestandenen Mathematikprüfung (in Algebra) verlassen.
Aber Mathematik scheint ohnehin Glaubenssache zu sein („Die Mathematik handelt ausschließlich von den Beziehungen der Begriffe zueinander ohne Rücksicht auf
deren Bezug zur Erfahrung“ -Albert Einstein), hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun
und fällt somit ebenso wie das Altgriechische und Lateinische eher in den Bereich
der Metaphysik.
Die Bouillon und die Philister, Лука Жидята, Феодосий Печерский und
Илларион lassen sich schnell in elektronischen Enzyklopädien nachschlagen,
ohne dass die Metapher der „äußerst trägen Tiere“ ihren Wirklichkeits-
bezug verloren hätte und ganz zu schweigen von der Hoffnung, durch die
Nutzung Wikipedias einen aufgeräumteren Schreibtisch zu erhalten.